Jesus sucht alle Verirrten
Es nahten sich ihm aber allerlei Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen. Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eins von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er’s findet? Und wenn er’s gefunden hat, so legt er sich’s auf die Schultern voller Freude. Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.
Oder welche Frau, die zehn Silbergroschen hat und einen davon verliert, zündet nicht ein Licht an und kehrt das Haus und sucht mit Fleiß, bis sie ihn findet? Und wenn sie ihn gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen und spricht: Freut euch mit mir; denn ich habe meinen Silbergroschen gefunden, den ich verloren hatte. So, sage ich euch, wird Freude sein vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut. (Lukas 15,1-10)
Christus sucht alle Verirrten ohne Unterschied. Welche Menschen gehören denn nun aber zu den Verirrten? Das sind nicht allein diejenigen, welche in der geistlichen Wüste des Heidentums noch ohne alle Erkenntnis Gottes und ihres Heilandes umherirren; nicht nur diejenigen, welche auf die Wege des offenbaren Unglaubens und offenbarer Laster geraten sind; nicht nur diejenigen, die, wie der verlorene Sohn, das Haus ihrer frommen Eltern und die Gemeinschaft der Christen verlassen haben, den erhaltenen christlichen Unterricht und die ihnen gegebenen dringenden Ermahnungen in den Wind schlagen, ihr Konfirmationsgelübde vergessen, mit der gottlosen Welt den Weg aller Nichtigkeit gehen, nichts nach Gottes Wort, nichts nach Kirche, nichts nach dem Abendmahl, nichts nach Gebet, nichts nach Himmel und Hölle mehr fragen: ein Verirrter kann auch derjenige noch sein, der mitten unter den Christen wandelt, mit ihnen eine innige Gemeinschaft hält, äußerlich christlich lebt, christlich redet, für das Reich Gottes eifert und dergleichen.
Verirrte sind nämlich von Natur alle Menschen, denn ein jeder kommt ohne wahre Liebe zu Gott, ohne wahre Furcht vor Gott und ohne wahres Vertrauen auf Gott, hingegen aber mit einer falschen Liebe zu sich selbst und mit der Liebe zu Sünde und Welt und ihrer Eitelkeit auf die Welt. Niemand lebt von Natur in der Gemeinschaft Gottes; der eine verirrt sich nur mehr in die Dornenhecken des Geizes und der Geldliebe, ein anderer mehr in die Sümpfe der Wollust, ein dritter mehr auf die jähen Höhen der Hoffart und Selbstgerechtigkeit und dergleichen. Sonst sind alle Menschen von Natur gleich weit von Gott verirrt. Christus sucht sie daher auch alle, er sucht mit einem Wort die ganze Welt. Eben darum hat er, der eingeborne Sohn Gottes, von Ewigkeit beschlossen, ein Mensch zu werden und sich in unser Elend herab zu senken; und eben darum hat er diesen ewigen, seligen Ratschluss ausgeführt, hat am Kreuze alle Menschen durch sein Blut und seinen Tod mit Gott versöhnt und erlöst, um alle Menschen zurückzubringen in die Arme seines himmlischen Vaters. Das ist nun eben Christi Amt und Geschäft, alle Verirrten zu suchen. Wie in dem alten Testament der Hohepriester die Namen aller Stämme Israels auf seinem Brustschild trug, so trägt Christus die Namen aller verlorenen Menschen auf seinem Herzen, sie sind eingeschrieben in das Buch seiner Allwissenheit und eingegraben in seine durchbohrten Hände. Er macht keinen Unterschied. Er sucht alle Verirrten, unter den Armen wie unter den Reichen, unter den Niedrigen und Verachteten wie unter den Hohen und Geehrten, unter den Einfältigen wie unter den Gelehrten, unter den Kindern wie unter den Erwachsenen, zu jeder Zeit bis an das Ende der Tage, in jedem Lande, unter jeder Nation.
Kein Mensch ist Christo zu gering, dass er sich nicht nach ihm umsehen und um die Rettung seiner Seele bekümmert sein sollte; kein Mensch ist ihm zu weit verirrt, dass er ihm nicht nacheilen sollte; kein Mensch ist ihm zu tief gefallen, dass er ihm nicht die Hand, ihn aufzurichten, reichen sollte; kein Mensch hat Gott und seinen Heiland zu schwer beleidigt, dass er sich nun seiner gar nicht mehr annehmen wollte; kein Mensch ist ein zu schändlicher Sünder, dass sich Christus seiner schämen sollte. Nein, Christus bekennt es vor den stolzen, hoffärtigen, heuchlerischen und selbstgerechten Pharisäern, dass er allerdings ein Sünderfreund sei, dass er alle Sünder liebe, dass ihm das Herz breche über der Not eines jeden, dass er daher alle suche, keinen, der zu ihm komme, hinaus stoße, sondern alle annehme.
O welch ein Trost ist das! Wir sehen hieraus, es ist also keiner auch unter uns, den der gute Hirte Jesus Christus nicht suchte; auch uns trägt Christus alle auf seinem Herzen; auch uns ist er von dem ersten Augenblick unseres Lebens an mit den Augen seiner Barmherzigkeit gefolgt; auch uns möchte er alle zu seinem Vater zurück bringen und endlich in seinem Himmel versammeln; und besonders diejenigen, die ihre Verirrungen schon erkannt haben, sieht er mit den Augen der zärtlichsten Liebe an. Er berechnet nicht die Menge, Größe und Schwere unserer Sünden, um danach die Gnade, die er uns erweisen könne, abzumessen; er fragt nur danach, ob wir Sünder, ob wir Verirrte und Verlorene sind, und das allein bewegt ihn eben, sich unser anzunehmen.
Pastor C.F.W. Walther
Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken…
Hesekiel 34,16